I SPY WITH MY LITTLE EYE

Lukas Glinkowski +
Stefan Hirsig

Kuratiert von Peter Ungeheuer

Eröffnung: 21. März 2024, 19:00

Dauer: 21. März — 14. April 2024
Öffnungszeiten: Freitag – Sonntag, 13:00 – 18:00



Ich seh’ etwas …

„Die Zeit ist aus den Fugen“, eine Metapher frei nach Hamlet, die seit damals regelmäßig und in den letzten Jahren wieder vermehrt in der Politik, aber auch der Kunst bemüht wird. Man kann nicht wegschauen, wir alle sind betroffen. Jeder hat seine eigene Antwort auf Zeitgebundenheit und Zeitfreiheit, so auch die beiden Berliner Maler Lukas Glinkowski und Stefan Hirsig. Die Leinwand (im weiteren Sinne) bietet ihnen eine Projektionsfläche, die sowohl klären als auch mystifizieren kann. Betrachter können sich hier wie bei Picassos „Guernica“ nicht durch eine realistische Beschreibung, sondern durch Abstraktion und Perspektivwechsel erschrecken, beeindrucken und bedrücken, aber durchaus auch verzaubern lassen. Allerdings ohne Position beziehen zu müssen, ganz im Gegensatz zum selbsternannten und dort auf Farbe verzichtenden „Milizionär“ Picasso.

Die neun Hochformate mit jeweils ähnlichen Proportionen, alle 2024 für diese Ausstellung entstanden, spiegeln sehr persönliche Eindrücke des Zeitgeschehens wider. Wie beim titelspendenden Kinderspiel ist scharfes Auge und Kreativität im (Mit- und Nach-)Denken gefragt; das „Sehen“ wird bezüglich seiner Objektivität häufig überschätzt. Findet man hier in Themen und Farben eher Fatalismus oder Hoffnung, Angst oder Lebensfreude? Kunst hat (unter anderem) die Aufgabe, die Menschen zu inspirieren und zu verbinden, auch wenn aus Spiel manchmal Ernst wird und umgekehrt.

Inkommensurables kommt in der flankierten Gemeinschaftsarbeit „Words for crooks“ zusammen: Die Unterschiedlichkeit der Ansätze der beiden Künstler in Form, Farbe, Fläche, Fiktion und Figuration gleicht der Überwindung einer Unmöglichkeit auf den ersten Blick, dennoch kann sie Schlüssel zum Verständnis der Ausstellung sein: Top-down trifft auf bottom-up, Planung auf Prozess, Zitat auf Idee, Gegenüberstellung auf Verbindung.

Auf der jeweils linken Seite der Räume sind Arbeiten von Lukas Glinkowski, rechts von Stefan Hirsig zu sehen. Jeweils vier weitere Arbeiten, die sich zyklisch verstehen können.

Rechts von der Gemeinschaftsarbeit setzt Stefan Hirsig die „Führerin“ in Verbindung. Führerin klingt ja in der Tat verführerischer als das männliche Pendant, aber es lässt sich nicht vermeiden, dass man zumindest unterbewusst auch an „ihn“ denkt. Dennoch kann eine Führerin auch positiv konnotiert sein. Im Titel wie im Bild will Hirsig uns dazu verleiten, immer auch die jeweils andere Perspektive einzunehmen. Nicht im Yin & Yang-Sinne als universelle Ergänzung in perfekter Harmonie, sondern als Polarität, die unausgewogen wie das Leben selbst ist. Das Figurative muss man sich mit eigenen Augen erarbeiten, weniges ist eindeutig, das meiste mehrdeutig und der Rest scheint auf den ersten Blick abstrakt. Die meisten Betrachter kommen dabei zu unterschiedlichen Ergebnissen: Ein zweites Hinsehen führt häufig zu einer anderen Interpretation eines Gesichtsausdrucks oder einer Hand.

Die „Lupenreinen“ zielen erneut auf die Ambivalenz von Führungspersönlichkeiten (und nicht auf einen geschliffenen Edelstein oder drei Tore in einer Halbzeit). Was Gerhard Schröder vor 20 Jahren bezüglich Vladimir Putin in den Mund gelegt wurde, ist für manche eine Frage der Perspektive, zumindest damals. Hirsig interessiert daran die gesellschaftliche Wirkung des dem Altkanzler zurecht zugeschriebenen „geflügelten Wortes“. Sicher findet jeder von uns – ohne große Mühe – bessere Vorbilder (um es vorsichtig auszudrücken). aber weder lässt sich abstreiten, dass auch dieser Anhänger hat, noch, dass auch der beste Demokrat nicht ohne Fehl und Tadel ist. Das werden auch die glühenden Verehrer von Jeanne d’Arc, Gandhi, Mandela, Churchill, de Gaulle, Brandt, Kennedy, Gorbatschow, Obama und Greta Thunberg eingestehen.Hirsig verzichtet auch hier auf eine Fratze des Bösen, sondern schickt uns erneut auf eine meinungsbildende Entdeckungsreise und das ist ja das Wesen der Demokratie: Zusammen- kommen über Dialog, Erkenntnisgewinn durch Perspektivwechsel und das Verständnis für und Eingehen auf andere Positionen.

Im Untergeschoss setzt Hirsig seinen Diskurs über Politik und Gesellschaft im Unruhezustand mit „Kopf der Bewegung“ fort. Er will uns für das Phänomen interessieren, dass für ihn jede politische oder soziale Bewegung eine Gallions- oder Führungsfigur als Erfolgsvoraussetzung benötigt – was nicht heißt, dass diese auch immer das Gesicht in der Öffentlichkeit ist. Die größte Arbeit der Ausstellung zeigt beispielhaft seinen malerischen Ansatz der Kontrastierung in allen Facetten: die großen Gesten und die feine Arrondierung, Bewegung und Stille, Konstruktion trifft auf Organisches, Figuren verschmelzen miteinander, werden zu Teilen des Kopfes oder lösen sich in einer Fläche auf. Er lässt uns durch seine Mehrdeutigkeit und Doppelbödigkeit im Unklaren, auch in welcher Beziehung er zu seinen Protagonisten steht; spürbar ist lediglich, dass er eine starke emotionale Bindung zu ihnen ermalt hat.

„Das Moralkel“ schließt in dieser Form des Rundgangs (jeder andere ist gleichwertig) die Bilderserie ab. Moralisieren und Orakeln sind Phänomene von Wahlkampfveranstaltungen und Parlamentsdebatten, genauso finden sie allerdings in sozialen Medien statt. Das Bild scheint den Eindruck zu erwecken, dass viele Phrasen ins Nichts verpuffen. Sind Argumente eventuell austauschbar? Was hat Substanz, was ist Rabulistik? Hirsig ist hier alles andere als beliebig, allerdings versteht er es, in Rätseln zu malen und uns diese aufzugeben.

Links davon zwei analoge Gemälde auf digital gemaltem Hintergrund von Lukas Glinkowski. Die Aluminiumverbundplattenarbeiten „Sonja 1 und 2“ haben die Anmutung von überdimensionierten Verkaufsschachteln eines fiktiven Videospiels. Der User kämpft als rothaarige Cyborg-Heldin in ferner Zukunft ihre Schlachten zwischen Mensch und Maschine. Wenn ihr die Munition ausgeht, bleibt ihr nach Gamedesigner-Usus nicht die Faust, sondern die Kettensäge. Aber vielleicht verstecken sich hinter den Äuglein Lebenspunkte oder gar eine Wunderwaffe? In dieser dystopischen Welt hat Hubot Sonja das Schicksal aller in ihren Händen. Glinkowskis zeitgenössische Stilleben sind vollgepackt mit Items, die jedoch nicht in jedem Fall symbolisch aufgeladen sein müssen. Es können durchaus Gegenstände sein, die ihn lediglich ästhetisch interessieren. In diesen Wimmelbildern stehen Aussagen und Belanglosigkeiten, Privates und Öffentliches, Provokation und Harmonie, Aufgeladenes und Trivialitäten gleichgewichtig neben- und übereinander; diese Form eines Rätsels wird dem Titel der Ausstellung auf andere Weise gerecht als Hirsigs Malerei.

Im Hochparterre hinten findet sich die kleinste Arbeit der Ausstellung, eine vergleichsweise puristische Spiegelarbeit mit einem Zitat aus dem Film „Terminator“, eine von Glinkowskis Inspirationsquellen für den hier gezeigten Zyklus. Erstaunlich, wie Zeitgenossen Romane wie „1984“ oder Filme wie „Terminator“ als vollkommen überzogene Schreckensvisionen der Zukunft angesehen haben. Und erschreckend, wie vieles davon tatsächlich eingetroffen ist oder bereits absehbar Realität werden wird, von der Überwachungsgesellschaft zur Herrschaft der durch künstliche Intelligenz emanzipierten Hubots, die ja eigentlich den Menschen dienen sollten.

Abschließend die Leinwandmalerei „World War 3“, wie die ganze Serie überwiegend mit der Spray Gun in vielen Schichten gemalt: Sie könnte eventuell der Titel für das Videospiel sein. Gleichzeitig eine gesellschaftliche Beobachtung – viele Begleiter des internationalen Geschehens sehen uns bereits an der Schwelle eines globalen Konflikts. Wie häufig reißt Glinkowski Zitate und Bilder in Graffiti-Manier aus dem Kontext – einen Reim müssen wir uns selbst daraus machen. Ist es Ernst oder nur eine Realitätsflucht (eine solche kann ein Videospiel ja sein) – Gegenwarts- bewältigung ist eine Sisyphos-Aufgabe für jeden von uns. Betrachten wir an dieser Stelle die Gemeinschaftsarbeit ein zweites Mal, sie kann sowohl als Anfang als auch als Endpunkt der Ausstellung gesehen werden: Die zunächst harmlose „3“ hat einen neuen Kontext bekommen, der Cheeseburger könnte als ein Symbol für (Anti-)Amerikanismus oder Donald Trump gelesen werden. Das Schwadronieren findet sich hier wieder wie auf der rechten Wand, auch die Führungsfiguren tauchen erneut auf. Unten rechts ein Aufruf, doch zu schweigen: Unsere Welt ist laut geworden, radikal, unübersichtlich und gefährlich. Das zeigen uns die beiden Künstler eindrücklich, allerdings nicht grundsätzlich pessimistisch. Sarah, Sonja, die Führerin, das Moralkel, die Lupenreinen und der Kopf der Bewegung sind vielleicht Persönlich- keiten, an denen wir uns aufrichten oder reiben können, um Dinge selbst in die Hand zu nehmen, damit es beim Spiel bleibt. Oder leben wir in einer postheroischen Welt? Vielleicht kommen wir aber bei einem zweiten oder dritten Rundgang zu einem anderen Ergebnis – es gibt ja, wie der Ausstellungstitel verspricht, sicherlich noch viel Unentdecktes zu sehen.

„Nun kommt, lasst uns zusammen gehen!“, endet die 5. Szene des ersten Akts bei Shakespeare. Hier nicht als Aufforderung Hamlets an zur Rache Eingeschworene, sondern an zum Nachsehen und Nachdenken Angeregte.

 

Ausstellungskuration und Text: Peter Ungeheuer

Peter Ungeheuer (*1967 in Höchstädt an der Donau) lebt und arbeitet in Berlin

Als unabhängiger Kurator hat er mehr als 40 Einzel- und Gruppenausstellungen mit mehr als 200 verschiedenen Künstlern an 20 verschie- denen Orten organisiert und kuratiert, hauptsächlich in Deutschland, aber auch in Österreich, Luxemburg, Portugal und Griechenland. In der Regel stehen die Ausstellungen unter einem bestimmten Thema, so dass die Besucher die Kunstwerke aus einer zusätzlichen Perspektive betrachten können. In den meisten Fällen werden die Werke speziell für die Ausstellungen in Zusammenarbeit und Diskussion mit den Künstlern geschaffen.

Er hat mehrere Dutzend Texte für institutionelle und kommerzielle Ausstellungen und Kataloge verfasst.