Interview mit Sebastiaan Schlicher

Lunar Caustic // 17. März – 2. April 2023

 

Text nimmt in der Kunst von Sebastiaan Schlicher (*1975) einen besonderen Platz ein: Wenn der gebürtige Niederländer über seine Arbeiten spricht, greift er auf Begriffe aus der Literaturtheorie zurück. In seinen dichten Zeichnungen, die von exaltierten Figuren wimmeln, finden sich neben abstrakten Zeichenfolgen immer wieder Buchstaben und ganze Sätze. Geschichten erzählen auch seine Werktitel. Eine Bezeichnung wie „Untitled, 2023“ wird man in seinem Werkverzeichnis wohl vergeblich suchen. Um Schlichers Sinn für Sprache und das Schreiben im Rahmen seiner Ausstellung sichtbar zu machen, entwickelte sich dieses Gespräch in Email-Form – als schriftlicher Austausch zwischen Berlin und Amsterdam, wo der Künstler arbeitet.

SMAC: Bei SMAC wirst Du Arbeiten auf Papier zeigen, die in den Jahren 2022 und 2023 entstanden sind. Was verbindet diese Werke?

Sebastiaan Schlicher: Meine Arbeiten sind alle Teil eines sich ständig erweiternden Ganzen. Die einzelnen Werke sind nicht als singuläre Aussagen gedacht, die sich jeweils mit bestimmten Themen befassen. Sie gehören zu einer größeren abstrakten Erzählung, die unerreichbar ist. Jedes Werk trägt gleichzeitig zu dieser Erzählung bei und sabotiert unser Verständnis davon.

Was hat diese Werke beeinflusst? Gab es Filme, Musik, Serien oder Begegnungen aus dem wirklichen Leben, die in den Schaffensprozess eingeflossen sind?

SS: Mein Prozess wird von intuitivem Zeichnen und assoziativen Erzählungen bestimmt. Die Dinge, die in die Arbeiten einfließen, sind oft improvisiert und spontan: Worte aus einem Lied, das zufällig im Studio läuft, oder ein Telefonanruf. Schlagzeilen, Erinnerungen, Träume, Dinge, die mich aufregen, deprimieren, ärgern, traurig machen oder verwirren. Was auch immer in diese Arbeiten eingeflossen ist, war das, was mich in diesem Moment interessiert hat. Ich lege keinen Wert darauf, die exakten Ursprünge zu dokumentieren, weil es nicht meine Absicht ist, eine historische Aufzeichnung zu erstellen oder die Arbeiten auf eine so direkte Weise mit tatsächlichen Ereignissen in Verbindung zu bringen. Die Vergänglichkeit der Dinge ist mir wichtiger.

 
 
 
 

Wenn Du über Deine Praxis sprichst, fallen Worte wie „Erzählung“, „Autobiographie“ und „Fiktion“. In den Werken erscheinen hin und wieder Sätze und Wortfolgen; auch die Titel spielen mit Text. Welche Rolle spielt die Sprache in Deiner Arbeit?

SS: Schreiben ist Zeichnen und umgekehrt. Ich benutze die Sprache als Werkzeug, um den Geist in Bewegung zu bringen. Ähnlich wie ich das Visuelle benutze, um das Auge zu bewegen. Die Sprache ist sowohl ein Werkzeug zur Manipulation als auch eine Ausdrucksform. Es gibt eine Menge Wechselwirkungen zwischen den beiden. Die Titel sind genauso wichtig wie jeder andere Aspekt meiner Arbeiten. Sie sind ein wesentlicher Bestandteil der Werke. Ich habe das Bedürfnis, mich mit dem zu beschäftigen, was ich zu sabotieren versuche: Sprache, Geschichten, Erinnerung.

Was können Texte leisten, was Bilder nicht können?

SS: Ich glaube nicht, dass es viel gibt, was die beiden Ausdrucksformen unterscheidet, aber wenn ich etwas erwähnen müsste, würde ich sagen: Text kann innerhalb einer Arbeit als eine Art Kurzformel für die Einführung gegensätzlicher Perspektiven zu den etablierten Erzählsträngen fungieren. Natürlich gibt es eine Menge visueller Tropen, die man mit Text ausnutzen kann: handgeschriebener Text, Großbuchstaben, gespiegelte Schrift, explizite Sprache, klassencodierte Sprache – all das ist mit abstrakten Gesten schwieriger zu erreichen.

 
 
 
 

Welcher Begriff beschreibt Deine künstlerische Praxis am besten – Maler, Zeichner, Multimediakünstler, Schreiber?

SS: Ich mag es, wenn Graffiti-Künstler sich selbst als „writer“ bezeichnen. Nicht so sehr im literarischen Sinne, sondern in einem ursprünglichen Sinne. Höhlenmalereien sind ja auch keine richtigen Gemälde, oder? Auch das sind im Grunde Schriften.

Es ist interessant, dass viele Künstler:innen eine Doppelbegabung aufweisen – neben der Malerei oder Bildhauerei arbeiten sie mit Text: Sie schreiben Gedichte, Geschichten und Romane. Wie ist Deine Einstellung zum literarischen Schreiben?

In der Vergangenheit habe ich Kurzgeschichten in Literaturzeitschriften veröffentlicht. Das war, bevor ich meine Stimme als Künstler gefunden habe. Nach meinem Abschluss an der Kunsthochschule wollte ich Schriftsteller werden. Schließlich wurde mir klar, dass mein Schreiben visuell angelegt ist: Mein bestes Schreiben liegt nicht in meinen Zeichnungen, mein bestes Schreiben sind meine Zeichnungen. Als ich das herausfand, wurde mir klar, dass ich mich gar nicht so sehr für die wörtliche Bedeutung der Worte interessiere, die ich schreibe – für mich geht es nicht darum, was ich schreibe, sondern, wie ich es schreibe und wie das Geschriebene mit den anderen visuellen Komponenten interagiert. Wie diese Elemente im größeren Rahmen meiner künstlerischen Arbeit funktionieren. Es ist eine völlig freie Form. Ich glaube, ich habe einen Punkt erreicht, an dem ich nicht mehr unbedingt anerkenne, dass einzelne Wörter eine Bedeutung haben. Ich werde alles aufschreiben, solange es möglich ist, die Bedeutung zu negieren.

 
 

Du hast über Deinen kreativen Prozess gesagt: "I am a spring, I go from birth to rebirth." Betrachtest Du die Art und Weise, wie Du Kunst schaffst, als einen Stream of Consciousness, um einen weiteren Begriff aus der Literatur zu verwenden?

SS: Ja. Ein Strom von Bewegungen, eine Reihe von intuitiven Gesten. So fängt es immer an. Die Kunst ist körperlich, fast performativ. Die Sprache – als Stream of Consciousness – kommt an zweiter Stelle. Oder sollte ich sagen, an dritter Stelle, denn normalerweise gehen abstrakte Gesten vor dem ersten Auftreten von Text in Figuration über, aber es fühlt sich genauso an.

Als Leitprinzipien Deiner Kunst hast Du „das Wilde, das Unberechenbare, den irrationalen Teil der menschlichen Erfahrung“ genannt. Was reizt Dich an der Sphäre außerhalb der sogenannten Norm?

SS: Es ist nicht nur eine Anziehungskraft, die mich daran reizt, sondern auch eine Bestätigung dessen, wo ich den größten Teil meines Lebens verbringe – emotional und geistig. Ich glaube, die Menschen fühlen sich von Natur aus viel mehr zum Anarchischen hingezogen, als sie zugeben wollen, sogar zu sich selbst. Es ergibt für mich Sinn, von dort aus zu arbeiten. Es ist eine Sphäre, von der aus alle anderen Optionen vorstellbar und damit möglich werden.

Der Literaturwissenschaftler und Kunsttheoretiker Michail Michailowitsch Bachtin sah das Groteske nicht ausschließlich als unheimlich und weltfremd an. Für ihn war es „die Möglichkeit einer ganz anderen Welt, einer anderen Weltordnung, eines anderen Lebens. Das Groteske führt über die Grenzen der scheinbaren Einzigartigkeit, Unabdingbarkeit und Unerschütterlichkeit der bestehenden Welt hinaus.“ Auch in Deinem Werk spielt das Groteske immer wieder eine Rolle. Welche Qualitäten nimmt es in Deiner Bildwelt ein?

SS: Das ist ein tolles Zitat. Die Figuren, die in meinen Arbeiten auftauchen, sind keine Darstellungen realer Menschen, sondern abstrakte Versionen. Es sind Karikaturen, theatralische Übertreibungen, Monster, deren Gefühle melodramatisch und vereinfacht sind. Ihre Gesichtszüge sind oft auf ein Amalgam aus Augen, Mündern und Körperflüssigkeiten reduziert. Ihr Zweck ist es, die Erzählung voranzutreiben und zu stören. Das Groteske in meiner Arbeit ist ein Mittel der Intensität und der Störung.

 
 
 

Wie sieht ein Tag in Deinem Atelier derzeit aus?

SS: Ich höre Musik, lese und arbeite abwechselnd an Zeichnungen und experimentiere mit elektronischen Geräuschmaschinen, die ich selbst baue und die die Zeichnungen ergänzen. Diese Maschinen sind eine neue Entwicklung in meiner Praxis, sie werden auch in der Ausstellung zu sehen sein und als „erweiterte Zeichnungen“ fungieren.

Du hast in der Vergangenheit in Berlin gelebt und gearbeitet. Wie hat die Stadt Deinen visuellen Kosmos beeinflusst?

SS: Im Moment arbeite ich in Amsterdam, aber auch das spielt für meine Bilder kaum eine Rolle. Es ist mein mentaler Kosmos, der beeinflusst wird. Ich habe das Gefühl, dass meine Arbeit in der Erfahrung der Stadt verwurzelt ist. Ich habe in London und Berlin gelebt und es war im Grunde dasselbe. Ich glaube, es hat mit der Bewegung der Menschen zu tun – sie sind wie Blutkörper, die durch einen Körper gepumpt werden. Und ich befinde mich mitten im Blutkreislauf.

 
 
 

Interview: Laura Storfner
Fotos: Eva Roefs